Darf´s eine Karte mehr sein?
Aus dem Tagebuch einer gestressten Hauptfrau.
Sonntag, 16. August, 21.30 Uhr. Große Papierbögen mit geheimnisvollen Zeichen bekritzelt bedecken seit Stunden den Esstisch. Versonnen und tief in Gedanken- und Zahlenspiele versunken sitzt Hauptmann Karlheinz A. (von treuen und langjährigen Weggefährten auch liebevoll „Acki“ gerufen) bereits ebenso lange gebeugt über dieselben. Es ist wieder soweit: die Vorbereitung des alljährlichen Schützenlustballs, der gesellschaftliche Höhepunkt der Neusser Ballsaison (oder was man dafür hält) erreicht ihr Endstadium. Der Sitzplan für 900 stattliche Schützen nebst festlich aufgemotzter Damenbegleitung im großen Prunksaal der Stadthalle will sorgfältig, ja akribisch erstellt werden.
Der ahnungslose Ballbesucher vermag kaum zu ermessen, welche logistische Meisterleistung sich hinter der sorgsam inszenierten Dramaturgie des Festes verbirgt. Selten lässt sich die Zahl der bestellten Karten pro Zug mit den vorhandenen Sitzplätzen am Tisch in Einklang bringen. Es gilt zu bedenken: wer kann mit wem oder eher nicht? Inwieweit benötigen trinkfreudige Züge den direkten Kontakt zur Saalbedienung, schwerhörige vielleicht die kommunikative Nähe zur Musikbeschallung? Wann kommen Komitee und König? Und wenn ja, warum bzw. wieviele? Fragen über Fragen ….
Der geneigte Leser ahnt schon, dass die Verfasserin der Zeilen erneut einsam den Abend auf dem heimischen Sofa verbringend der Aufklärung des Tatort-Krimis entgegenfiebert, und langsam dämmert es ihr, dass sie nachfolgend auch Inspector Barnaby bei seiner Tätersuche allein wird behilflich sein müssen ….
Freitag, 21. August, ca 14.03 Uhr. Während Karlheinz A. ahnungslos in seinem doch recht entfernt vom heimischen Herd liegenden Büro weilt und sich der Aufbesserung der Familienfinanzen widmet, betritt die Verfasserin nach einem anstrengenden Schulmorgen das traute Heim, in der Hoffnung sich sodann einem regenerierenden Mittagsschläfchen hingeben zu können, als das Telefon klingelt. „Ja, hier ?? vom Zug ??. Ist der Acki da?“ „Leider nicht, der Acki arbeitet.“ „Wie, der arbeitet? Ja also ich wollt nur Bescheid sagen, dat ich nich zum Ball kommen kann, weil ich dann in Kur bin. Vielleicht könnt ihr die Karte ja noch anderweitig loswerden.“
Unangenehme Vorahnungen ergreifen von mir Besitz. Ich beschließe in meiner Funktion als Quasi-Sekretärin der Corpsspitze den Gatten von seiner wichtigen Büroarbeit abzuhalten und ihn von dieser neuen Sachlage zu informieren, nicht ahnend, welche Lawine damit losgetreten wird. „Wie, der Zug ?? Die haben doch gar keine Karten bestellt!? Guck mal im Wohnzimmerschrank links oben, da ist der Ordner mit der Aufschrift …“ Der geschätzte Leser ahnt vielleicht, wie sich der restliche Nachmittag und Abend im Hause Ackermann gestalten. Endlose Telefonkonferenzen mit und zwischen diversen Zugmitgliedern, die aus allen Wolken fallen, da sie sich im Besitz von 28 gültigen Saalkarten wähnen, eine hektische Suche nach Ursachen, Verantwortlichen und möglichen Lösungen unter Einbeziehung von Major, Adjutant, Kassierer und mindestens drei weiteren Vorstandsmitgliedern mit dem Ergebnis, dass Karlheinz A. auch den Freitag Abend mit dem riesigen Sitz- und Saalplan der Stadthalle en miniature auf dem Esstisch verbringt und neue Konstellationen austüftelt. Leute, CSI Miami ist nichts dagegen! Wahrscheinlich auch unnötig zu erwähnen, dass aus dem „regenerierenden Mittagsschläfchen“ weder an diesem Tag noch an allen darauffolgenden bis Kirmes etwas wird.
Samstag, 22. August, 17.30 Uhr.
Im heimischen Garten mäht sich Hauptmann A. seit Stunden einen Wolf. Verzeihung, es muss natürlich heißen: … mäht seit Stunden mit dem Wolf, als versuche er, mit dem Golfclub Hummelbachaue zu konkurrieren. Schön grün soll er aussehen, der Rasen (und der Garten), denn am kommenden Montag und Dienstag findet traditionell der große Kartenverkauf für den Schützenlustball zwischen 16 und 20 Uhr im Hause Ackermann statt. Heißt im Klartext: die Vertreter von 80 Zügen laufen auf, um Karten abzuholen bzw. gegen Geld zu tauschen, sich mit neuen schützenfestlichen Devotionalien und Gerüchten einzudecken sowie die ein oder andere Schützenlustfahne aus den Beständen des Majors zu erwerben. Um das traute Heim durch den zu erwartenden Publikumsverkehr nicht zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, wird diese Veranstaltung daher regelmäßig als Outdoor-Event organisiert und bedarf entsprechender Vorarbeit (s.o.) ….
Montag, 24. August, 15.57 Uhr. Gleich ist es soweit! Ich ziehe gerade den dampfenden Streuselkuchen für die schützenfestlichen Ritter der Tafelrunde aus dem Ofen, als Schatzmeister Walter L. bereits mit Laptop und Aktenordnern bewaffnet geschäftig auf den Gartenweg einbiegt. Wenig später folgen in bunter Reihe Major Herbert G. (mit Fahnen), Adjutant Kurt K. (ohne Schal) sowie Vorstandsmitglied Thomas E. mit diversen Gewehren, Abzeichen, Krawattennadeln, Aufklebern, Liederbüchern und Programmheften im Gepäck.
Innerhalb von Minuten ist unsere Terrasse nicht mehr wiederzuerkennen und verwandelt sich in ein wahres Feld- und Vorratslager. „Kuchen? Ach, das wär aber doch nicht nötig gewesen …! Gibt‘s denn auch Sahne?“ Und während das Durcheinander langsam Form annimmt, kommen zwischen Computer, Kaffee und Karten in treuer Pflichterfüllung bereits die ersten Frührentner unter den Corpsmitgliedern, um das Geschäftliche abzuwickeln und nebenbei mit dem Hauptmann noch über die neuesten Methoden von Moos-, Klee- und Schneckenbekämpfung im Garten zu fachsimpeln.
17.10 Uhr. Mittlerweile wirkt die Terrasse wie ein kunterbuntes Heerlager aus dem 30-jährigen Krieg. Aufgeregtes Stimmengewirr schallt die Obererft entlang. Sämtliche Stühle und Stehtische sind bevölkert mit Kartenabholern und Besuchern aller Altersklassen, darunter auch Schützenfrauen mit Kleinkindern, die von ihren karrieresüchtigen Ehemännern zum Abholen der Karten abkommandiert wurden. Dazwischen türmen sich Überweisungsträger und leere Kaffeetassen.
17.30 Uhr. Besorgte Blicke der Hausfrau zum Himmel. Gewitterwolken ziehen auf. Wird das Heerlager etwa bald das heimische Wohnzimmer bevölkern? Ein letzter Blick auf den schönen neuen Teppich und die gerade geputzten Fliesen ….
19.57 Uhr. Alles noch mal gutgegangen. Und es wird Abend und wieder Morgen: der zweite Tag!
Dienstag, 25. August, 19.30 Uhr. Der Final Countdown: seit beinahe 8 Stunden läuft der Kartenmarathon, und 2.897 Bestellungen konnten bereits an den Mann bzw. die Frau gebracht werden. Erschöpft, aber glücklich hängen die Vorstandsrecken in den Seilen bzw. Gartenstühlen. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt um erste Wetten abzuschließen: welche Züge werden in diesem Jahr den Abholtermin verpasst, verschlafen oder vergessen haben? Polizeioberhauptwachtmeister Kurt K. (im Moment a.D.) wirft sein Mobiltelefon an, um die Säumigen „hart aber fair“ zu mahnen, Schatzmeister Walter L. kontrolliert ein letztes Mal die verbuchten Einnahmen in ellenlangen unübersichtlichen Excel-Tabellen, zwei weitere Vorstandsmitglieder, die ungenannt bleiben wollen, vertilgen unauffällig die noch verbliebenen Essens- und Getränkereste. Großes Hallo für die letzten Kartenabholer (ab jetzt nur noch gegen bar bei Nappi in der Apotheke!).
20.33 Uhr. Abendliche Stille senkt sich über die heimischen Grünanlagen. Ein paar Elstern machen sich gierig über Kuchenkrümel her. Wieder einmal ist eine Ausgabe des alljährlichen „Home-and-Garden-Ticket-Sale“ erfolgreich über die Bühne gegangen. Hauptmann Acki räumt die letzten Gläser und Kuchenteller in die Spülmaschine. Dann knallen die Korken, und wir stoßen an auf einen hoffentlich erneut gelungenen, festlich-fröhlichen Schützenlustball …
PS
Noch 4 Tage bis Schützenfest!