2003/2004 Marco I. Sickel mit Mirja Vanessa Bräutigam
Schützenkönig Marco Sickel in seinem Büro. Foto: N. Küpping
Ich bin ein anderer Mensch geworden
L & L: Warum entscheidet man sich mit 25 Jahren, die Neusser Königswürde anzustreben. War das ein spontaner Entschluss?
Sickel: Nein, so spontan war das nicht. Ich hatte geplant, das in diesem Jahr zu machen. Die Rahmenbedingungen waren prima. Ich habe eine tolle Königin, privat passte das gut in unser Programm, auch finanziell passte es. Und ein großer Traum von mir war es sowieso. Also, warum nicht dann, wenn alles gut passt. Ich habe mich mit meiner Partnerin Mirja kurzgeschlossen, ob sie das mitträgt. Sie hat das bejaht und dann haben wir uns dazu entschieden.
L & L: Und wie waren die Reaktionen?
Sickel: Durchweg positiv. Jeder, mit dem ich gesprochen habe oder jeder, der mich angesprochen hat, sagte “super”, “Respekt”. Vom Präsidenten bin ich am Kirmessonntag, als ich es ihm gesagt habe, gebeten worden, noch eine Nacht darüber zu schlafen. Das ist normal. Am Montag solle ich ihm Bescheid sagen, ob sich mein Entschluss so gefestigt hat. Und so habe ich das dann gemacht.
L & L: War da einer dabei, der gesagt hat: “Lass es sein”?
Sickel: Nein, da war keiner dabei.
L & L: Als sie dann König waren, welche Reaktionen kamen dann?
Sickel: Mir gegenüber waren sie durchweg positiv. Aber es gab natürlich allgemeines Gerede, aber das kennt man ja in Neuss.
L & L: ...Freude, Offenheit, Sympathie, Neugier, Neid, von allem etwas?
Sickel: Ja, von allem etwas und von allem gleich viel. Auch der letzte Punkt, der war sicher auch dabei und ist nicht ganz zu kurz gekommen.
L & L: Kannten Sie den Stellenwert dieses Amtes in Neuss, wo der Schützenkönig häufig vor dem Bürgermeister begrüßt wird?
Sickel: Ja, das wusste ich. Ganz unbedarft war ich nicht. Dass das allerdings so in die tiefe, persönliche Sphäre geht, dass man da so schwer durchleuchtet wird, das war mir nicht so klar. Aber es liegt wohl an meiner Person, dass das Gerede in diesem Jahr noch etwas größer war.
L & L: Warum?
Sickel: Weil ich so jung bin. Das ruft viel Gerede und Diskussionen auf.
L & L: Was waren denn so die Stimmen, die da an Sie herangetragen wurden?
Sickel: An mich selber ist ja nichts herangetragen worden. Das ist ja das Kuriose. Leute, die einem vielleicht etwas Böses wollen, deren Gesichter kennt man ja nicht. Insofern ist es schwierig zu sagen, was war jetzt eigentlich Gerede? Ich habe schon oft die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gesagt, wenn nur ein bisschen davon wahr gewesen wäre, was kolportiert wurde, dann hätten meine Eltern etwas verkehrt gemacht.
L & L: Im November bekam Ihr Königsjahr eine ganz neue Wendung. Sie sind Immobilienmakler und haben in dieser Eigenschaft ein Bauvorhaben in Duisburg finanzieren wollen, in dem ein Bordell eingerichtet werden sollte. Dies wurde im Zuge einer Rechtsstreitigkeit mit einem Ihrer früheren Geschäftspartner öffentlich. Glauben Sie, dass diese Rechtsstreitigkeiten irgendeinen interessiert hätte, wenn Sie nicht Neusser Schützenkönig gewesen wären?
Sickel: Nein, das hätte sicherlich keinen interessiert. Dadurch, dass ich ein öffentliches Amt bekleide, das in Neuss sehr angesehen ist, hatte die Gegenseite erst eine Möglichkeit gefunden, mich unter Druck zu setzen und diesen Vorgang dann auch in die Medien zu lancieren.
L & L: Was passierte dann Ende November/ Anfang Dezember?
Sickel: Es ging alles Schlag auf Schlag. Das hat sich, wenn man so zurückdenkt, alles binnen 14 Tagen abgespielt, auch die ganzen Zeitungsartikel. Das habe ich nicht kommen sehen. Ich habe da schon schwer drunter gelitten. Mein Umfeld auch. Wenn ich meine Eltern und meine Partnerin nehme – in dieser Zeit haben wir alle sehr gelitten.
L & L: Ist das so ein Gefühl vom freien Fall von 100 auf 0?
Sickel: Zu der Zeit habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Mir fehlte der Schlaf, weil ich morgens um 4.00 Uhr zum Düsseldorfer Hauptbahnhof gefahren bin, um zu sehen, ob wieder etwas in der Bild-Zeitung steht. Während der Zeit habe ich darüber gar nicht nachgedacht. Ich habe eigentlich nur versucht, die Wogen zu glätten, um das durchzustehen.
L & L: Wie waren denn die Reaktionen aus dem Umfeld?
Sickel: Viele haben verständnislos reagiert, dass das so aufpuscht worden ist von der Bild-Zeitung. Nach dem Motto, was der König beruflich oder privat macht, interessiert mich nicht. Es gab Stimmen, die mir gesagt haben: “Halt durch, das stehst Du schon durch.” Aber gab natürlich auch viele Stimmen, die das nicht gut fanden, was ich gemacht habe. Vor allen Dingen, die Leute, die sagten, das kann ich nicht mit meiner Moralvorstellung, mit meinen Werten vereinbaren. Das habe ich akzeptiert. Jedem, der mir das offen gesagt hat, war ich eigentlich dankbar. Ich habe dann einen Text in der Neuss-Grevenbroicher-Zeitung veröffentlicht und mich entschuldigt.
L & L: Sie haben gesagt, dass Ihnen bewusst war, was das Amt des Neusser Schützenkönigs bedeutet. Es hätte ja auch alles gut ausgehen können, d. h. es hätte nicht zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen müssen. Haben Sie denn eigentlich realisiert, bevor das alles losging, dass dieses Geschäft für viele nicht mit dem Amt des Schützenkönigs zusammenpassen könnte?
Sickel: Jetzt müssten wir in die Tiefe einsteigen, in die ich auch im letzten Jahr nicht eingestiegen bin. Meine Rolle war, dieses Vorhaben durch einen geschlossenen Fonds zu finanzieren. Also, ich habe das weder initiiert noch habe ich das vorangetrieben, sondern ich bin da hinzugezogen worden, um das zu finanzieren. Ich glaube, auch andere solche Objekte sind von großen Banken in Deutschland finanziert worden. Jetzt müssten wir suchen, wie tief stecke ich da eigentlich drin? Was habe ich da eigentlich gemacht? Ist das jetzt verwerflich? Dann steigen wir genau in die Diskussion ein, die ich im letzten Jahr vermieden habe. Ich hätte mich auch hinstellen können und sagen, was wollt ihr jetzt eigentlich. Für mich war das ein geschäftlicher Vorgang, wie ich den auch schon mehrere Male zuvor - allerdings bei anderen gewerblichen Nutzungen – gemacht habe. Ich habe durchaus schon andere geschlossene Fonds und andere Objekte so finanziert. Für mich war das so nicht ungewöhnlich.
L & L: Heute sehen Sie das anders?
Sickel: Ja, auf jeden Fall. Für meine Begriffe war dieses Geschäft ein Fehler und das habe ich auch in meinem Brief an die Neusser Bürger und die Schützen gesagt. Nicht jedes Geschäft, was legal ist, ist auch legitim. Das stimmt auch. Man sagt, Geld stinkt nicht, aber das stimmt nicht, Geld kann schon stinken. Aber das muss man erst einmal erkennen. Ich habe genauso gelernt, wie viele andere vor mir. Gar keine Frage. Und bereut habe ich das auch. Der Schützenkönig war für mich wichtiger als dieses Geschäft. Sicher ist ein Geschäft auch wichtig. Aber für mich stand dieses “Schützenkönig sein” im Vordergrund. Insofern habe ich das auch wirklich bereut.
L & L: Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?
Sickel: Wenn ich ehrlich bin, eigentlich nicht. Wer sich nun einmal in eine solche Position begibt und ein solches Ehrenamt bekleidet in dieser Stadt, der muss damit rechnen. Aber mir fehlte der Feinsinn dafür, das im Vorfeld zu sehen.
L & L: Vielleicht hängt das auch mit Ihrer Jugend zusammen?
Sickel: Das war bestimmt so.
L & L: Wer hat Ihnen denn damals geholfen, Sie unterstützt?
Sickel: Die Mirja hat mir am allermeisten geholfen. Die hat mir oftmals einen guten Rat gegeben und mich beruhigt.
L & L: Wie war die Rolle des Komitees?
Sickel: Die war relativ neutral. Da ging es um Krisenbewältigung. Und darum, dass man das schadlos für das Neusser Schützenfest, den Neusser Bürger-Schützenverein und auch schadlos für den Marco Sickel bewältigt.
L & L: In dieser Reihenfolge?
Sickel: Nein, alles schon gleichrangig. Der Marco Sickel war da auch wichtig.
L & L: Im Januar folgte dann ein schwerer persönliche Schicksalsschlag für Sie, es wurde Hodenkrebs bei Ihnen diagnostiziert. Hatten Sie da das Gefühl, die öffentliche Diskussion um Ihre Person und der Ausbruch der Krankheit könnten miteinander zusammenhängen?
Sickel: Nein, das kann man so nicht sagen. Der enorme Stress war sicherlich nicht positiv. Aber es gibt einen Punkt im vergangenen Jahr, an den ich mich erinnere. Da könnte ich Ihnen heute sagen, das war der Tag, an dem der Krebs in meinem Körper ausgebrochen ist. Da bin ich an einem Samstagnachmittag nach Hause gekommen. Ich habe mich ins Bett gelegt und bin 5 Tage nicht mehr aufgestanden, weil ich körperlich einfach fertig war. Da habe ich zuerst gedacht, ich sei insgesamt sehr gestresst. Aber das war einfach die Erkrankung, die da schon in mir war.
L & L: Denkt man dann in einem solchen Moment, das kann doch nicht wahr sein?
Sickel: Es ging alles zu schnell, als dass ich darüber nachdenken konnte. Heute sage ich rückblickend, der einzige, der überhaupt der Meinung war, dass er völlig mit sich im Lot ist, das war ich. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich glaube, dass der Kopf das mit einem macht, um einen vor sich selbst zu schützen. Ich habe das zwar realisiert und wusste auch, wie schwer die Erkrankung ist, aber richtig ernst genommen, so dass ich mich habe fallenlassen, habe ich das nicht. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass der Körper einfach so reagiert und einen dann schützt. Für alle anderen um mich herum war das viel schlimmer. Für meine Eltern, meine Freundin war es zehnmal schlimmer als für mich. Aber natürlich hat man zwischendurch viel Zeit über einiges nachzudenken und meine Meinung zu ganz vielen Dinge hat sich grundlegend verändert. Also Dinge, die vorher in meinen Augen völlig unwichtig waren, waren plötzlich mehr als wichtig. Dinge, die vorher in meinen Augen wichtig waren, waren plötzlich unwichtig.
L & L: Haben Sie Unterstützung erfahren?
Sickel: Also das habe ich, und da bin ich auch ganz vielen Leuten dankbar. Ich habe Briefe, Anrufe bekommen und erhalte auch heute noch, egal bei welcher Veranstaltung – ich habe in der Zeit keine ausgelassen - viel Zuspruch. Es ist schön, wenn jemand sagt, Du packst das schon. Und wenn dann der fünfte kommt, dann ist das einfach prima. Das ist nicht nervig, sondern gibt einfach ein gutes Gefühl. Wenn plötzlich Post kommt von wildfremden Menschen oder irgendeinem Schützenzug, den ich persönlich gar nicht kenne. Dann hat das mir sehr geholfen.
L & L: Gab es Situationen in denen Sie sich selbst gesagt haben, das packe ich nicht? Ich muss das Amt drangeben?
Sickel: Ja, es gab oft Momente, in denen ich das Amt aufgeben wollte, sowohl während der Affäre im Herbst wie auch während der Krankheit.
L & L: War das Ihre Meinung oder haben Ihnen andere gesagt: Lass es.
Sickel: Ja, es gab schon Leute, die mir gesagt haben, ich solle das Amt niederlegen. Aber die Überlegungen gingen hauptsächlich von mir aus. Weil ich gerade im Herbst gesehen habe, dass ich vielen Menschen geschadet habe. Nehmen wir beispielsweise meine Eltern, die hatten dann genauso viel Stress wie ich. Dabei wollte ich ein Jahr haben, in dem die Menschen, die mich gerne haben, mich begleiten können und sie an meiner Freude teilhaben lassen. Ich wollte keinem Ärger bereiten, vor allem nicht meinen Eltern. Ich wollte auch der Mirja keinen Ärger bereiten. Insofern muss ich sagen, es gab einen Punkt, an dem ich mir sagte: Vielleicht ist es besser, wenn Du das Amt doch niederlegst.
L & L: Was war da mit entscheidend für Ihren Entschluss weiterzumachen?
Sickel: Vor dem Hubertusball im Dezember gab es eine Corpsführerversammlung. Bis auf eine Enthaltung haben alle Corps gesagt, wir tragen Dich weiter. Das war mir sehr wichtig, weil ich glaube, dass man das selber alles nur schwer einschätzen kann. Ich bin sehr froh, dass dieses Ergebnis zu Stande gekommen ist.
L & L: Wie geht es Ihnen denn heute?
Sickel: Mir geht es gut. Mir geht es wirklich gut. Die Haare wachsen wieder, der Bart wächst wieder.
L & L: Haben Sie denn jetzt noch therapiemäßig etwas vor sich – vor Schützenfest?
Sickel: Nein, die Chemotherapie ist abgeschlossen und im Augenblick laufen die finalen Untersuchungen die ich noch über mich ergehen lassen muss. Ich hoffe, dass alles gut behandelt worden ist und dass der Krebs, der in meinem Körper vorhanden ist, abgetötet ist.
L & L: Wenn Sie ein Motto über dieses Jahr schreiben müssten, was würden Sie darüber schreiben?
Sickel: Et is wie et is - et kütt wie et kütt – und et hätt noch immer jood jejange – den letzten Satz wünsche ich mir. Das wäre ein gutes Motto.
L & L: Haben Sie Sorge, dass vor Schützenfest noch einmal etwas hochgekocht wird?
Sickel: Nein, da habe ich keine Sorge. Ich fände es auch ungerecht. Ich finde da ist viel geschrieben und diskutiert worden und würde das persönlich ungerecht finden. Zeit zu diskutieren gab es genug.
L & L: Wenn Sie am Kirmesdienstag die Königswürde weitergeben, ist das dann ein ganz anderer Marco Sickel, der dann da oben steht? Unabhängig vom Königsamt.
Sickel: Das ist bestimmt ein ganz anderer Marco, der dann da oben steht. Also das eine Jahr hat viele Spuren bei mir hinterlassen. Es hat auch in ganz unterschiedlichen Belangen zu vielen Veränderungen in meinem Leben geführt. Es hätte auch ohne Krankheit, ohne das Durcheinander im vergangenen Herbst eine Veränderung mit sich gebracht. Jetzt sind natürlich die Veränderungen viel einschneidender. Insofern gibt ein ganz anderer Marko Sickel die Kette wieder ab.
L & L: Würden Sie nach all dem, was Sie erlebt haben, diese Entscheidung noch mal so treffen.
Sickel: Ja. Mehr noch. Wenn man jetzt die Ereignisse aus dem Januar mit meiner Erkrankung beispielsweise sieht, dann kann ich nur jedem raten, wenn er die Möglichkeiten dazu hat, sich einen Traum zu erfüllen, das jederzeit zu machen. So traurig das jetzt vor diesem Hintergrund ist, das sagen zu müssen. Also, Gott sei Dank, dass ich das gemacht habe. Wer weiß, ob man das noch mal machen kann. Wenn ich jetzt zurücksehe, habe ich eigentlich zu 98 % positive Erinnerungen an alle Auftritte, an alles, was mit dem “Schützenkönig sein” verbunden ist. Es ist schade, dass wir in der Öffentlichkeit nicht so dargestellt werden, wie es ist. Oft habe ich jetzt gehört, der ist ja doch ganz anders, der ist ja doch ganz nett. Oder, so hatten wir uns dich gar nicht vorgestellt. Ich glaube, das ist schon ein bisschen beeinflusst durch das, was passiert ist. Alles in allem habe ich versucht, so viele Termine wie möglich wahrzunehmen und so viele Einladungen anzunehmen, um einfach zu zeigen, hier bin ich und so bin ich. Und ich hoffe es ist gelungen.
L & L: Was wünschen Sie sich für Kirmes?
Sickel: Schönes Wetter und viel Spaß!