Gleichberechtigung von Frauen und Männern
Ist unser Schützenfest noch zeitgemäß? Gleichberechtigung von Frauen und Männern muss sich in den Vereinsstrukturen wiederfinden.
Wie sicherlich alle Neusser:innen freuen auch wir uns, in diesem Jahr endlich wieder unser geliebtes Bürger-Schützenfest zu feiern. Nach zwei Jahren Abstinenz mögen einige Abläufe vor und während des Festes wie eingerostet wirken. Vielleicht werden wir eine Art Eingewöhnung brauchen, bis wir wieder so feiern wie vor der Pandemie. Aber: Wir können wieder feiern!
Die Pandemie hat in vielen Lebensbereichen dazu geführt, bestehende Strukturen zu überdenken und Abläufe zu hinterfragen. Diese Entwicklung macht auch vor dem Neusser Bürger-Schützenfest nicht Halt. Die Frage, in welcher Form das Schützenfest noch zeitgemäß ist, drängt sich auf; manche sagen, sie sei längst überfällig. Ist das Schützenfest ein Stadtfest für alle Bewohner:innen der Stadt, wenn nur Männer aktive Vereinsmitglieder sein können und Frauen mit ihrer Rolle als “Röskes” in der zuschauenden Position verbleiben? Kann man im Jahr 2022 noch ein Schützenfest mit einer Vereinssatzung feiern, die von einem Rollenbild aus dem letzten Jahrtausend geprägt ist? Es sind Fragen, die vor dem Hintergrund zunehmender, aber längst nicht abgeschlossener, gesellschaftlicher Gleichberechtigung von Frauen und Männern gestellt werden müssen. Wir sehen den jetzigen Zeitpunkt daher als Chance für eine Veränderung. Eine Veränderung in der Vereinsstruktur, gegen Diskriminierung, für Gleichberechtigung von Frauen und Männern und für die Weiterentwicklung unseres Brauchtums in Neuss.
Die positiven Auswirkungen unseres Schützenfestes und Schützenvereins auf das gesellschaftliche Leben in Neuss sind gerade in herausfordernden Zeiten - wie einer Pandemie - offensichtlich: Das Schützenfest spannt ein Netz, prägt Netzwerk und Freundschaftskreis, es bietet Struktur für das gesellschaftliche Miteinander. Dieses Netz endet nicht an den Stadtgrenzen, es geht weit darüber hinaus und reicht in die ganze Welt. Kinder der Stadt Neuss fühlen sich auch in der Ferne durch das Schützenfest mit der Stadt und den Menschen eng verbunden. Von diesen Strukturen profitieren wir Neusser:innen und die Stadt Neuss seit Jahren. Ihr Weiterbestehen ist getragen durch das Weitergeben und Weiterleben von Traditionen im Laufe der Zeit. Tradition ist ohne Frage ein Garant für den Erfolg und die Beliebtheit unseres Schützenfestes.
Damit die Traditionen und das Brauchtum weitergelebt werden, müssen sich diese in der Lebenswirklichkeit derjenigen wiederfinden, die sie weitertragen. Auch lang gereifte Traditionen können und dürfen sich gesellschaftlichem Wandel nicht entziehen, sonst laufen sie Gefahr, dass die Gesellschaft ihnen ihre Relevanz entzieht. Gestrige Strukturen können im Heute keinen breiten gesellschaftlichen Rückhalt finden, um in Zukunft den Fortbestand unseres Schützenfestes zu gewährleisten. Konventionen einer modernen Gesellschaft müssen dabei beachtet werden und sich auch in Vereinsstrukturen abbilden.
Das Streben nach Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Gesellschaft findet seit Jahrzehnten statt. An vielen Schützenvereinen des Landes ging diese Entwicklung lange vorbei, bis sich die ersten Vereine öffneten und Frauen als aktive Vereinsmitglieder aufnahmen. Neusser:innen vergleichen sich nicht gerne mit anderen Schützenvereinen, aber der Blick lohnt sich: Bei seiner Jahreshauptversammlung 2022 beschloss der Bilker St. Sebastianus Schützenverein, Frauen als aktive Mitglieder aufzunehmen. Im Bund Historischer Deutscher Schützenbruderschaften (BHDS) nehmen von 1.300 Vereinen nur 16% keine Frauen auf. In Hannover ist dieses Jahr erstmals eine Frau unter den vier Bruchmeistern, die das Schützenfest nach außen repräsentieren. Der Neusser Bürger-Schützenverein allerdings bewegte sich bis dato nicht - zumindest nicht in eine fortschrittliche Richtung. Dabei spricht das Leitbild des Neusser Bürger-Schützenvereins aus dem Jahr 2020 von einer Erfolgsgeschichte, die er “fortschreiben will – in einer Gemeinschaft, für die Traditionsbewusstsein und Aufgeschlossenheit für gesellschaftliche Entwicklungen zusammengehören.” Dieser Aufgeschlossenheit bedarf es nun zur Überwindung veralteter Rollenbilder, die die Struktur des Vereinslebens prägen: Männer sind aktiv im Verein, sie marschieren und organisieren. Frauen sind die “Röskes”, werden nicht selten als “schmückendes Beiwerk” bezeichnet und nehmen am Fest Blümchen bringend vom Straßenrand teil. Damit haben sie anders als ihre männlichen Altersgenossen fast keine Entscheidungsoptionen, wie sie das Fest mitfeiern. Dies ist im Übrigen auch ein Bild, das wir weiterhin in die Neusser Kindergärten und Klassenzimmer bringen und damit eine junge Generation sozialisieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit veralteten Rollenbildern findet nicht statt. Der Neusser Bürger-Schützenverein muss sich heute mehr denn je fragen, ob er sich dieser gesellschaftlichen Entwicklung weiter verschließt oder ob er sich der Modernisierung öffnet.
Die vom Verein beschriebene Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, bedeutet für uns konkret, den Verein zukunftsfähig zu machen. Zukunftsfähig ist der Verein, wenn er allen Bürger:innen offen steht. “Ein integrativer und verbindender Bestandteil der Neusser Gesellschaft und des Neusser Bürgerwesens” sei das Schützenwesen nach dem Wertekanon des Schützenvereins. Ein integrativer Bestandteil der Gesellschaft kann das Schützenfest aber nicht sein, wenn es die Hälfte der Gesellschaft grundsätzlich von der aktiven Teilnahme ausschließt. Das impliziert, dass die Wahrung der Traditionen im Schützenwesen im Kontrast zur Gleichstellung von Frauen und Männern in einer modernen Gesellschaft stünden. Aus unserer Sicht steht sie das ganz eindeutig nicht. Zukunftsfähig ist der Verein, der integriert und nicht ausschließt. Als aktive Schützen sind wir Vereinsmitglieder und stehen für diesen Verein ein. Ob man im Jahr 2022 für einen Verein einstehen kann, der Frauen von der aktiven Teilnahme grundsätzlich ausschließt und damit diskriminiert, muss (und wird) jedes Vereinsmitglied künftig für sich hinterfragen.
Zukunftsfähig ist der Verein, wenn er sich dem gesellschaftlichen Diskurs stellt. Wir wollen Gleichberechtigung. Deswegen wollen wir eine Debatte darüber anstoßen, wie Frauen aktiv am Vereinsleben teilnehmen können. Sie beginnt im Kleinen, in den Zügen, in den Familien, im Bekanntschaftskreis und geht weiter in der gesamten Bürger:innenschaft. Sie muss aber auch in der Verantwortungsebene, in den Corps und im Schützenverein selbst, geführt werden. Hierfür erhoffen wir uns auch in unserem Corps der Neusser Schützenlust - einem vergleichsweise jungen Corps - Diskussionsbereitschaft und wegweisende Signale. Verstehen wir es als Chance für die Modernisierung unseres Vereins!
Gezeichnet:
Schützenlustzug Fein Raus
Tim Berning (OL),
Rückmeldungen an:
Feinraus2012@gmail.com